Armut im reichen Deutschland

http://www.spiegel.de/images/image-102836-galleryV9-jgum.jpgArm«, sagt Christian Herwartz, »arm sind doch nur unsere kalten Herzen, die den anderen nicht mehr sehen.« Der hochgewachsene Mann mit dem Vollbart hat sich zurückgelehnt, seine blauen Augen fest auf sein Gegenüber gerichtet. Im Leben des Jesuiten Herwartz sind solche Sätze keine Lyrik, sondern Wirklichkeit: In seiner Wohngemeinschaft in Berlin-Kreuzberg teilt er Zeit und Kraft mit denen, die an der Tür klingeln, weil sie ein Dach über dem Kopf brauchen, ein Bett, Essen und Gemeinschaft. Manche wollten nur eine Nacht bleiben, und dann wurden zehn Jahre daraus, sagt Herwartz. Ihm ist das recht: »Reichtum erfährt man in der Begegnung, im Teilen von Leben.«

Leben teilen? Die meisten Menschen stellen sich unter Reichtum etwas anderes vor. Und je weiter die Armut um sich greift, desto stärker werden die Abwehrreflexe. In der ehemals »nivellierten Mittelschichtgesellschaft« Deutschlands ebenso wie in der Schweiz sind die Milieus zunehmend bemüht, sich abzuschotten. Als wäre Armut eine ansteckende Krankheit. Als würde das Problem verschwinden, wenn man nur entschlossen genug die Augen zukneift. Doch es verschwindet nicht.

Im Gegenteil. 2007 lebten in Deutschland schon 12 Millionen Menschen, darunter drei Millionen Kinder und Jugendliche, in Armut; und in der Schweiz sind immerhin zehn Prozent der Einwohner von Armut betroffen, rund 700 000 Personen. Dennoch wird die Armut »beschönigt, relativiert und ideologisch entsorgt«, wie der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge formuliert.

Beschönigen: Das geht am besten mit dem Hinweis auf ferne Länder. Haiti zum Beispiel. Da hungern Menschen, da müssen sie von weniger als einem Dollar am Tag leben. Aber hierzulande?

Ist arm, wer in einem reichen Land wie Deutschland oder der Schweiz weniger als sechzig Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung hat? Wer dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen ist, fühlt sich als Mensch zweiter Klasse. Eltern schämen sich, wenn ihre Kinder abgetragene Klamotten tragen oder an der Klassenfahrt oder Schulreise nicht teilnehmen können. »Ich erlebe oft trostlose Gesichter, die zerfurcht und traurig sind. Gerade Langzeitarbeitslose sehen oft deutlich älter aus, als sie sind«, sagt Ernst Ulrich Huster, einer der Pioniere der Armutsforschung. »Vor Kurzem habe ich in einer Kirche eine Wandtafel mit Gebeten gesehen. Auf einem Zettel stand: ›Lieber Gott, herzlichen Dank, dass diese große Schande Hartz IV jetzt vorbei ist.‹«

Und die sogenannten normalen Bürger? Edith Franke leitet den Verein sächsischer Tafeln und berichtet von »nicht zu übersehenden Hassgefühlen« gegenüber Hartz-IV-Empfängern. Sie kann vorrechnen, wie die Armut gewachsen ist: In Dresden versorgt die Tafel knapp 12 000 Bedürftige mit Lebensmitteln. »Vor der Hartz-Reform sind es 6000 gewesen«, sagt Franke.

Dabei scheint die Abneigung gegen die Armen umso größer, je wohlhabender das Umfeld ist. »In den reichen Gefilden nördlich von Frankfurt wollen sich viele erst gar nicht mit dem Thema Armut auseinandersetzen«, sagt Alexander Dietz, Referent für Gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Hochtaunus. Die Einführung eines Sozialtickets hat der Kreistag schon zweimal abgelehnt, obwohl sich Arme nicht einmal die Fahrt zur Arbeitssuche nach Frankfurt leisten können. Und in der reichen Schweiz? »Da weigern sich weite Kreise, überhaupt über Armut zu diskutieren«, so Caritas-Direktor Hugo Fasel.

Christian Herwartz mag sich nicht abfinden mit dieser Spaltung. Konnte es schon als Schüler nicht: »Die Oberschüler stiegen morgens in die Straßenbahn vorn ein, die Hauptschüler hinten.« Konnte es auch später nicht, als er Jesuit geworden war. In Frankreich entdeckte er die Bewegung der Arbeiterpriester. Nach dem Theologiestudium arbeitete er als Dreher. Gemeinsam mit einem Freund entwarf er die Idee einer einzigartigen Kommunität. Zunächst in der eigenen Wohnung, später in der Berliner Naunynstraße in vier Räumen, die der Orden angemietet hat. »Menschen, die ausgegrenzt werden, sind für mich eine Herausforderung«, hat er einmal geschrieben. »Sie sollen nicht zu uns gehören, weil sie beim Verteilen des Reichtums, beim Kampf um unsere Rechte, bei der Betreuung von Schutzbedürftigen stören.«

Hassgefühle gegenüber Armen

Ausgrenzung geschieht mitunter subtil. So wird die Rangordnung über Benimm- und Kleidercodes, durch Geschmack und Bildung markiert. Mitunter geschieht sie auch offener: etwa beim Kampf um die beste Schule für den Nachwuchs. Da sorgen diejenigen, die noch etwas zu verlieren haben, dafür, dass ihre Kinder unter sich bleiben. Deshalb boomen Privatschulen, obwohl längst nachgewiesen ist, dass dort nicht mehr gelernt wird.

Solidarität? Chancengleichheit? Die Angst vor dem Absturz lässt anscheinend wenig Raum für Ideale. Wilhelm Heitmeyer, der an der Universität Bielefeld das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung leitet, befragt seit acht Jahren jährlich 2000 repräsentativ ausgewählte Personen, wie sich deren politische, soziale und wirtschaftliche Einstellungen verändert haben. Seine Erkenntnisse lassen einen frösteln: In Redaktionen, Banken, Werbeagenturen und Architekturbüros, unter ganz normalen Büroangestellten wachse ein Milieu, das den Armen vor allem Verachtung entgegenbringe. 61 Prozent der Befragten sagen, dass in Deutschland »zu viele schwache Gruppen« mitversorgt werden. 47 Prozent der Menschen glauben, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht mehr an Arbeit interessiert seien.

Die Umfragen belegen jenen »Hass der modernen Gesellschaft auf die Parasiten«, den der amerikanische Soziologe Richard Sennett schon vor Jahren konstatierte. Und diese Haltung wird von manchen Politikern bestätigt: So bezeichnete der Bundestagsabgeordnete Philipp Mißfelder, Vorsitzender der Jungen Union und christlicher Demokrat, eine Hartz-IV-Erhöhung als »Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie«. Zuvor hatte sich der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, ein Sozialdemokrat, abfällig über einen Teil der Migranten geäußert.

In der Wohngemeinschaft in der Naunynstraße leben Menschen, die aus dem Gefängnis oder der Psychiatrie entlassen wurden, abgelehnte Asylbewerber, die nicht arbeiten dürfen, und Arbeitslose. Christian Herwartz weigert sich, sie als arm zu bezeichnen. Jeder Mensch ist reich, sagt er, und hat »einen Anspruch darauf, als Mensch und Gottes Wesen in seiner einzigartigen Würde akzeptiert zu werden.« Das Weitere ergibt sich dann: Wenn Menschen in der Wohngemeinschaft zu sich gefunden haben, finden sie auch einen Weg, ihr Leben selbst zu bestreiten, jenseits der staatlichen Alimentierung. Und wer möchte, kann auch zur Kommunität gehören. Wie funktioniert das?

»Dafür haben wir keine Regeln«, sagt Christian Herwartz. »Die finden sie hier selbst.« Jeden Dienstag gibt es ein gemeinsames Frühstück; alles andere – vom Gespräch bis zum Reinigen der Zimmer – regeln die Bewohner selbst. Für Christian Herwartz ist das eine grundsätzliche Frage: »Das ist doch das Gesellschaftsmodell, immer alles von oben nach unten zu regeln. Nicht mehr mit den Menschen zu sprechen. Genau das passiert gerade auch in der Politik. Da wird von oben nach unten durchgestellt.«

Für viele Politiker sind die Armen der lebende Beweis für das Scheitern ihrer Politik. In den 1970er-Jahren begann, was Friedhelm Hengsbach den »dreißigjährigen Feldzug gegen den Sozialstaat« nennt: Die Steuern wurden gesenkt, die Gewinne der großen Unternehmen gesteigert, staatliche Leistungen zurückgefahren und die Arbeitsmärkte liberalisiert. Soziale Ungleichheit wurde zur Produktivkraft erklärt, weil die Armen nur durch die Angst vor dem Elend zum Arbeiten getrieben würden. »Das musste die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich immer weiter vertiefen«, schreibt der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge: »Deshalb ist die Armut auch kein bloßer Kollateralschaden der Globalisierung, kein Naturereignis und kein politischer Betriebsunfall – sie ist gewollt.«

Für Christian Herwartz ist das »die Gewaltgesellschaft«: Menschen werden nicht beteiligt, vom Teilen ganz zu schweigen. Deswegen steht seine Tür immer offen, und er bewohnt ein Zimmer, in dem sieben Betten stehen. »In den 25 Jahren unserer Wohngemeinschaft haben bei uns etwa 500 Menschen aus 25 Nationen gelebt«, erzählt er. »Am Rand die Mitte suchen«, nennt er das.

Ziel der Politik scheint es dagegen zu sein, die Gesellschaft immer weiter zu spalten. Zum Beispiel durch die Steuerpolitik: Die Vermögenden, die reichen Erben und die Großunternehmen wurden entlastet, die Niedriglöhner verdienen zu wenig, um Steuern zu zahlen – so trägt der Mittelstand fast die gesamte Steuerlast. Angestellte und Facharbeiter fühlen sich geschröpft und reichen den Druck nach unten weiter.

Hoffnung macht da lediglich das Engagement einiger Organisationen für mehr soziale Gerechtigkeit. Überraschend viele Menschen protestierten in deutschen Großstädten gegen die Sparpolitik der Bundesregierung. In der Schweiz mobilisiert ein soziales Bündnis, auch getragen von kirchlichen Bewegungen, für ein Referendum gegen geplante Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung. In beiden Ländern fordern kritische Gruppen entschiedene Schritte gegen die Armut – und sie berufen sich auf die Europäische Union, die 2010 zum »Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung« erklärte.

»Ohne diesen Hunger wäre ich tot«

Ob die Regierungen diesem Ziel Priorität einräumen, ist jedoch fraglich. Walter Schmid, Rektor der Hochschule Luzern und Präsident der Schweizer Konferenz für Sozialhilfe, vermisst jedenfalls in der Schweiz eine verbindliche, langfristige Strategie gegen Armut, und in Deutschland sieht das Sparpaket der Regierung in erster Linie Kürzungen bei den sozial Schwächeren vor.

Dabei ließe sich Armut durchaus bekämpfen: Durch Förderung von Kindern aus benachteiligten Familien, eine soziale Grundsicherung, Anreize für Arbeit statt Zuverdienstgrenzen, gesetzliche Mindestlöhne, tarifvertraglich geregelte Arbeitsbedingungen, solidarische Bürgerversicherungen für Rente, Pflege und Gesundheit, einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt, Steuern auf Reichtum und Finanzgeschäfte sowie staatliche Investitionen in den Kommunen, in den ökologischen Umbau, in soziale Dienste. Sage niemand, das sei nicht bezahlbar! Lorenz Jarass, Steuerexperte an der Fachhochschule Wiesbaden, hat für Deutschland vorgerechnet, dass Bund, Länder und Gemeinden jährlich schon allein 66 Milliarden Euro mehr eingenommen hätten, wären im Jahre 2000 die Steuern nicht gesenkt worden. In Zeiten marktliberaler Ideologie sind leere öffentliche Kassen kein Zufall.

Christian Herwartz will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich etwas ändert, wenn Menschen protestieren, und dass diejenigen beschenkt werden, die ihr Leben teilen. Er selbst sei dankbar, sagt er: »Meine Mitbewohner haben mir Hunger nach Veränderung geschenkt. Ohne diesen Hunger wäre ich tot.«

Quelle: http://www.publik-forum.de/

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