»Deutschland schafft sich ab«
Wenn erst einmal Emotionen eine Diskussion bestimmen, haben sachliche Argumente kaum noch eine Chance. Dies erlebt derzeit Naika Foroutan, Politikwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität. Sie hat zusammen mit einem Forscherteam viele Behauptungen in Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« entkräftet. Gleichzeitig legt ihre Untersuchung jedoch auch viele Probleme von Migranten in Deutschland offen.
Nun könnte also endlich eine sachliche Debatte über das Zusammenleben verschiedener Kulturen beginnen. Doch stattdessen herrscht erst einmal betretenes Schweigen. Aber der Reihe nach.
Thesen, die sich in Luft auflösen
»Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand« heißt die 70-Seiten-Studie von Naika Foroutan, die das Forschungsprojekt »Hybride
europäisch-muslimische Identitätsmodelle« leitet. Die Stärke ihrer Untersuchung liegt darin, dass sie sich auch auf mehrere andere Studien und auf eine breite Datenbasis stützt. Die Zahlen
stammen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, vom Statistischen Bundesamt, aus Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach und von der Bertelsmann
Stiftung. Diese widersprechen mehreren zentralen Thesen in Sarrazins Buch:
»Besorgniserregend ist, dass die Probleme der muslimischen Migranten (im Bildungsbereich, d. Red.) auch bei der zweiten und
dritten Generation auftreten, sich also quasi vererben«, heißt es bei Sarrazin. Foroutans Team hat diese Aussage anhand von Zahlen des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2008 über die
Herkunft der Abiturienten und Fachabiturienten überprüft. Danach hatten von den Personen mit türkischem Migrationshintergrund 22,4 Prozent der zweiten Generation Abitur oder Fachabitur, in der
ersten Generation der Gastarbeiter waren es nur 3 Prozent. »Hier lässt sich ein Bildungsaufstieg erkennen«, schreiben die Berliner Forscher. Generell »verlassen in sämtlichen Zuwanderungsgruppen
mit muslimischem Hintergrund Angehörige der zweiten Generation deutlich häufiger als ihre Eltern die Schulen mit einem Abschluss«.
Allerdings sagen die Forscher ebenso klar, dass türkischstämmige Kinder geringere Chancen haben, das Gymnasium zu besuchen als Kinder ohne Migrationshintergrund. Dies sei jedoch keine Folge ihres religiösen Glaubens, sondern ihres sozialen Status. Ein Beleg: Schiiten unter den Muslimen haben eine wesentlich höhere Abiturquote in Deutschland als Sunniten, weil die Schiiten vornehmlich aus dem gebildeten iranischen Mittelstand stammen. Damit zeigt sich bei Muslimen die gleiche Tendenz wie bei Schülern insgesamt: Über den Zugang zu höherer Bildung entscheidet auch der soziale Status ihrer Eltern.
»In Berlin werden zwanzig Prozent aller Gewalttaten von nur tausend türkischen und arabischen jugendlichen Tätern begangen«, behauptet Sarrazin. Dazu bat das Forschungsteam von Foroutan den Berliner Polizeipräsidenten um eine Stellungnahme und erhielt einen Brief mit folgender Aussage: »8,7 Prozent der Gewalttaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik wurden im Jahre 2009 von Tatverdächtigen begangen, die entweder türkischer Nationalität oder dem arabischen Raum zuzuordnen waren. Erweitert man die Personengruppe um die Personen, deren Nationalität als ›unbekannt‹ oder ›keine Angaben‹ erfasst wurden, was zumindest häufig für eine Herkunft aus dem arabischen Raum sprechen kann, erhöht sich die Zahl der Fälle auf 2509, was einem Anteil von 13,3 Prozent an allen Fällen der Gewaltkriminalität entspricht.«
Und immer wieder: Das Kopftuch
»Sichtbares Zeichen für die muslimischen Parallelgesellschaften ist das Kopftuch. Seine zunehmende Verbreitung zeigt das Wachsen der
Parallelgesellschaft an.« Auch hier kommen die Berliner Wissenschaftler zu einem anderen Ergebnis: Es werde in der zweiten Generation signifikant weniger getragen. Siebzig Prozent der Frauen
tragen kein Kopftuch. Zudem bleibt die Frage offen, ob ein Kopftuch wirklich ein Zeichen für die enge Verbundenheit mit einer Parallelgesellschaft ist.
Durch das gesamte Buch von Sarrazin zieht sich die These hindurch, Muslime würden sich zunehmend abschotten: Sie nähmen nicht am
Schwimmunterricht teil, hätten keine deutschen Bekanntschaften und würden zu einem großen Teil schlecht Deutsch sprechen. Speziell die These von der Abschottung muslimischer Kinder im
Schwimmunterricht ist für die Berliner Wissenschaftler eine »Phantomdebatte«, denn dies träfe nur für »sieben bis zehn Prozent aller muslimischen Kinder zu«. Zudem ergaben repräsentative Umfragen
des Allensbach-Instituts, dass drei Viertel der befragten Muslime häufig Freundschafts- oder Nachbarschaftskontakte zu Nichtmuslimen haben. Die Umfragen des Instituts ermittelten zudem
bei siebzig Prozent der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund gute bis sehr gute Deutschkenntnisse.
Sarrazin, der Polemiker
So entlarven denn die Berliner Forscher Thilo Sarrazin als das, was er nie sein wollte: als Polemiker. Andererseits macht Foroutans Faktencheck die großen Herausforderungen im Zusammenleben zwischen den verschiedenen Kulturen deutlich: Natürlich ist es ein Fortschritt, wenn 22,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit muslimischem Hintergrund das Abitur oder Fachabitur erlangen, doch unter den übrigen Schülern gelingt dies knapp fünfzig Prozent. Es ist erfreulich, wenn drei Viertel aller befragten Muslime gute Kontakte zu ihren nichtmuslimischen Nachbarn oder Arbeitskollegen haben, doch gleichzeitig bedeutet es auch, dass ein Viertel keine guten Kontakte hat – bei vier Millionen Muslimen sind dies immerhin eine Million. Und dass Täter türkischer oder arabischer Herkunft in Berlin »nur« 13,3 Prozent und nicht 20 Prozent aller Gewalttaten begehen, widerlegt nicht, dass diese Gewalt in einigen Stadtvierteln und Hauptschulen beherrschend wirkt.
So müsste nun eine Diskussion darüber beginnen, wie das Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft gezielt verbessert werden könnte. Doch diese Debatte beginnt nicht, weil Sarrazins Buch – inzwischen 1,2 Millionen Mal verkauft – vor allem den Hass gegenüber Muslimen verstärkt hat. »Islamfeindlichkeit ist konsensfähig, auch bei jenen, bei denen es bisher nicht zu erwarten war«, schrieb der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer im Dezember in seiner Studie »Deutsche Zustände«. Hass jedoch macht immun gegen Argumente.